ANSICHTSSACHE
'Nicht alles ist so wie es auf den ersten Blick erscheint
Unser Gehirn ist sehr gut darin, unsere Wahrnehmung so zu verzerren, dass das wahrgenommene Bild (für das Gehirn ist es egal, ob es eine Zeichnung oder unser „Bild“ einer Situation ist) unseren vergangenen Erfahrungen entspricht. Und manchmal wollen wir auch etwas „so und nicht anders“ sehen und dann sorgt unser Gehirn dafür, dass das Bild unseren Erwartungen oder Wünschen entspricht.
Herausforderung für unser Gehirn - wir sehen was wir zu sehen erwarten, aber beim zweiten Blick...
Weil wir uns selbst überall mit hin nehmen
Ich möchte zu einer besseren Beziehung zu dir selbst und damit zu deinem Pferd beitragen! Denn wenn wir Kontakt mit einem Pferd aufnehmen, treten wir in eine soziale Interaktion ein. Mit einem Wesen mit seinen eigenen Bedürfnissen, Wünschen, Gefühlen, seinem eigenen Charakter und all seinen vergangenen Erfahrungen. Also nicht anders als wir selbst! Und wie bei jedem anderen sozialen Kontakt nehmen wir auch in diesem Kontakt unsere Fallstricke mit.
Im Vergleich zu Menschen können Pferde sehr gut beobachten und haben viel bessere Sinnesorgane. Wir hingegen können viel besser argumentieren und vorausdenken. Das ist es, was den Menschen von anderen Säugetieren unterscheidet. Und deshalb sind wir stets für den Erfolg gemeinsamer Aktivitäten mit unserem Pferd verantwortlich. Leider stehen wir oft im Weg, uns dieser Verantwortung ehrlich stellen zu können. Oder besser gesagt, unsere Schwächen und Fallstricke wie Ängste, das Bedürfnis nach Leistung oder sich zu Beweisen, eine zu abwartende Haltung, das Gefühl den anderen unterlegen zu sein, Angst zu Scheitern, das Gefühl vom Pferd nicht ernst genommen zu werden. Und mit all diesen blinden Flecken muss sich unser Pferd auseinandersetzen. Und oft genug wird dann das Pferd dafür verantwortlich gemacht. Zum Beispiel, wenn wir keine Klarheit schaffen (weil wir in unserem Handeln nicht konsequent sind oder weil wir selbst kein klares Bild davon haben, was wir wollen) und das Pferd daher entweder die Führung übernimmt oder das Pferd durch unserer mangelnden Klarheit verunsichert wird und es sich daher „nervig“ verhält.
Aber wie schnell hört man: „Er ist dominant!“
'Der erste Schritt, um der beste Tiertrainer zu werden, besteht darin, dass Sie bereit sind, die Verantwortung für das unerwünschte Verhalten Ihres Tieres genauso zu übernehmen, wie Sie bereit sind, Verantwortung für das gewünschte Verhalten Ihres Tieres zu übernehmen'
(Steve Martin, 'The Art of Training Animals')
Es gibt keine sofortige Lösung für langjährige und daher tief verwurzelte Muster oder Probleme. Und ich habe auch keine neue Horsemanship-Theorie erfunden. Denn schließlich ist kein Pferd wie das Andere. Und kein Mensch ist wie der Andere. Sie sollten sich auch im Umgang mit Ihrem Pferd wohlfühlen und Sie selbst sein. Dies ist jedoch schwierig, wenn Sie das Gefühl haben, sich an die Regeln anderer Menschen halten zu müssen, wenn diese nicht zu Ihnen als Person passen. Dann besteht die Gefahr, dass man zu sehr aus dem Kopf heraus agiert und somit nicht authentisch sein kann. Jeder Vogel singt wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Deshalb muss die von Ihnen gewählte Methode zu Ihnen passen. Aber gibt es nicht DIE wahre Methode, die EINE Wahrheit für alle? Ich fürchte nein, genauso wenig wie in der Kindererziehung. In den letzten Jahren wurden mindestens ebenso viele Bücher über Kindererziehung wie über „Horsemanship“ geschrieben. Aber die Wahrheit ist: Wenn Sie nach einem Buch erziehen, tun Sie Ihrem Kind und sich selbst keinen Gefallen, es sei denn, Sie haben genau das Kind zu Hause, das sich der Autor vorgestellt hat! Doch warum werden so viele Bücher mit unterschiedlichen und oft sogar widersprüchlichen Aussagen verkauft? Nun ja, viele Menschen wagen es nicht, auf sich selbst zu vertrauen, haben Angst vor Fehlern und suchen deshalb nach Orientierung, nach Beispielen, nach Orientierung.
Glaube nicht an Gurus sondern an Dich selbst
Über Pferde werden etliche Behauptungen aufgestellt, die eher auf Glauben beruhen als auf Tatsachen.
Ein Pferd sollte aus Respekt vor Ihnen als Anführer arbeiten wollen und nicht für eine Belohnung. Sonst wären die Machtverhältnisse nicht klar. Schliesslich belohnt die Leitstute die anderen Pferden doch nicht, oder? Ja, das stimmt, aber nur Menschen verlangen von Pferden Dinge, die aus der Sicht des Pferdes völlig nutzlos sind. Und die viel komplexer oder weitreichender sind als das, was Pferde untereinander kommunizieren:„Halte dich von mir fern“ oder „Folge mir“. Das soziale System einer Herde, in der gegenseitige Abhängigkeiten bestehen, sichert das Überleben des Einzelnen und ist im Instinktrepertoire des Pferdes verankert. Dies steht im Gegensatz zu den Dingen, die wir einem Pferd beibringen wollen.
Ein Pferd sollte sich Ihnen als Anführer nie unaufgefordert nähern, sondern muss respektvoll Abstand halten. Nun ja, tatsächlich darf ein rangniedrigeres Pferd nicht ungestraft den persönlichen Raum des Ranghöheren betreten. Es sei denn, die beiden sind miteinander befreundet. Denn Pferde pflegen Freundschaften, in denen der rangniedrigere auch unaufgefordert auf den Ranghöheren zugehen kann. Das Machtverhältnis tritt hier in den Hintergrund. Es sei denn der Ranghöhre will das nun gerade nicht.
Ein Pferd sollte nicht aus der Hand gefüttert (belohnt) werden, da dies nur zu aufdringlichem Verhalten führen würde. Darüber hinaus würden nur Raubtiere Futter als Belohnung verstehen, denn Weidetiere würden Nahrung von Natur aus als selbstverständlich betrachten: Schließlich wächst das Gras vor ihren Füßen. Es klingt einigermaßen logisch, aber Tatsache ist, dass man selbst einem Plankton fressender Fisch durch Futterbelohnung noch etwas beibringen kann. Deshalb gibt es keinen ernstzunehmenden Tiertrainer, der nicht auf Futterbelohnungen setzt. Auch das Clickertraining basiert auf der Assoziation des Klickgeräuschs mit Futter. Und ja, manche Pferde (oder Hunde, oder...) reagieren sehr gierig auf die angebotene Futterbelohnung und neigen zum Betteln. Auch hier hilft wiederum Erziehung: die Belohnung kommt erst, wenn Ruhe einkehrt und sich das Pferd zivilisiert verhält. So wie auch Ihr Kind Tischsitten lernen musste.
Einem Pferd nützt es nichts, wenn man mit ihm redet, es stört es sogar. Denn Pferde sprechen nicht und können unsere Worte nicht verstehen. Um uns verständlich zu machen, müssen wir ihre Sprache, ihre Körpersprache lernen. Es ist auf jeden Fall notwendig, die Körpersprache des Pferdes verstehen zu lernen, sonst können sie sich uns gegenüber nicht verständlich machen. Wir können genauso gut erwarten, dass das Pferd lernt, unsere gesprochene Sprache zu verstehen. Und das können Pferde erstaunlich gut: Fast jedes Pferd kennt die Sprachbefehle Schritt, Trab und Galopp. Aber sie können laut Studien noch viel mehr Befehle lernen und über 40 Kommandos unterscheiden. Und sie reagieren besonders stark auf das, was man die universelle Botschaft einer Stimme nennen könnte: aggressiv, bedrohlich, angespannt, beruhigend, freundlich. Mit anderen Worten verstehen sie unsere Absicht bzw. Stimmungslage. Und natürlich lesen sie auch unsere Körpersprache, das liegt in ihrer Natur. Seien Sie sich also Ihrer Körperhaltung bewust!
An anderer Stelle liest man die Aussage, dass Pferde in den Archetypen ihrer Vorfahren denken würden und daher beispielsweise die Krallen eines Löwen in einer offenen Hand erkennen würden. Abenteuerliche Theorie. Woher weiß der Erfinder dieser Theorie denn, ob und welche Urbilder durch den Kopf des Pferdes gehen? Meine Pferde denken sicherlich ganz anders über eine geöffnete Hand!
Genauso abenteuerlich ist der Glaube, dass Pferde kein Zeitgefühl haben, nur im Hier und Jetzt leben. Jeder, der schon einmal auf eine Fütterung verzichten musste, weiß, dass Pferde – wie andere Tiere auch – ein ausgezeichnetes Zeitgefühl haben. Wir nennen dies die innere Uhr – der Körper stellt sich auf Zeitintervalle ein, bei einem Tier nicht anders als beim Menschen. Allerdings können Tiere nicht wie wir in abstrakten Konzepten denken und Zeitintervalle daher nicht in abzählbare Einheiten unterteilen und damit messbar machen. Aber sie wissen ganz genau, wenn Sie zu spät kommen!
Pferde leben im Hier und Jetzt und reagieren daher nur auf das, was JETZT ist. Leider ist auch dies eine unbegründete Annahme. Wie viel einfacher wäre es sonst, Pferde – und Tiere im Allgemeinen – mit einer schlechten Vergangenheit zu „korrigieren“ oder ihnen das Vertrauen (in Menschen oder in eine Herde) zurückzugeben? Pferde können, genau wie Menschen, traumatisiert sein und manchmal dauert es lange, dies zu ändern, manchmal ist es auch nur teilweise möglich ihre Erinnerung an eine schlechte Vergangenheit verblassen zu lassen.
Als Verhaltenwissenschaftler gebe ich mich nicht mit Behauptungen zufrieden, die nicht überprüfbar sind oder die sogar im Widerspruch zu beobachtbaren Verhalten stehen. Darüber hinaus finde ich Pferde auch ohne Mystifizierung oder spirituellen Aberglauben faszinierend (Mystifizierung ist mir jedoch noch lieber als das Tier auf ein Sportgerät zu reduzieren und seine natürlichen Bedürfnisse zu verleugnen: Es ist ein Sportpferd und muss ein hartes Training untergehen. Und ein solches Pferd kommt nicht in einer Herde auf die Weide, da wäre es einem zu hohen Verletzungsrisiko ausgesetzt, denn das nächste Tunier ist bereits geplant.
Empathie zeigt uns den Weg
Nein, Pferde sind keine vierbeinigen Menschen. Aber nach mehr als 3.000 Jahren Domestizierung sind sie nicht mit Wildpferden zu vergleichen, die ut alleine zurecht kommen. Und es sind sicherlich keine mystischen Wesen mit einem siebten Sinn oder weise Schutzengel, die Sie 'vollständig spüren'. Noch weniger sind sie reine Instinktwesen, die nur im Hier und Jetzt leben, ohne Fantasie, ohne eigene Wünsche und Erwartungen, ohne Gerechtigkeitssinn und Selbstbewusstsein. Betrachten Sie Ihr Pferd mit Ihrem Herzen: wie zu einen Mitmenschen, denn es sind lebende Wesen mit dem gleichen Spektrum an Gefühlen wie wir und mit eigenen pferdetypischen Bedürfnissen und einem eigenen Charakter. Betrachten Sie Ihr Pferd also mit Einfühlungsvermögen und liebevollem Respekt, um es in seiner Individualität wahrzunehmen. Und schauen Sie auf sich selbst und darauf, wie Sie sich mit Ihrem Pferd fühlen.
Über Glaubensfragen lässt sich schwer streiten. Testen Sie Ihren „Glauben“, um zu sehen, ob er zu Ihnen passt, vor allem aber, ob Ihr Pferd (und Sie) davon profitieren – sowohl psychisch als auch physisch! Tatsache ist, dass ein Sportpferd heutzutage statistisch gesehen nur noch 8 Jahre alt wird. Daher gilt ein Pferd mit 14 Jahren bereits als alt. Im Gegensatz dazu können die in der Hohen Schule ausgebildeten Topathleten, also nach klassischen, partnerschaftlichen Prinzipien geritten, auch noch im Alter von 26, 27 Jahren und älter problemlos gesund und motiviert, also mit Freude, arbeiten.